Karl Kraus: Wiener Stätten

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IV. Freunde und Weggefährten


Die Geschichte des Nachlasses von Karl Kraus ist kompliziert und unübersichtlich - nicht nur wegen der Uneindeutigkeiten, die aus der offensichtlich flüchtigen Niederschrift seines Testaments selbst herrühren, sondern auch, weil sie Teil der Emigrations- und Exilgeschichte ist. Karl Kraus starb 1936; zwei Jahre später überschritt die deutsche Wehrmacht die Grenzen zu Österreich, der "Anschluß" an das nationalsozialistische Deutschland wurde vollzogen. Kraus' Familie und alle Personen, die Kraus zu seinen Nachlaßverwaltern eingesetzt hatte, mußten emigrieren oder wurden deportiert. Die von Oskar Samek gerettete Bibliothek und die Möbel aus Kraus' Arbeitszimmer, die Samek in einem Raum seines Anwesens in der Reindorfgasse 18 aufgestellt hatte, wurden 1938 durch die SA beschlagnahmt und sind seitdem verschollen. Ein Überrest ist ein Brillengestell, das Karl Kraus bei seinem Wiener Optiker zurückließ, als er sich eine neue anfertigen ließ. Es befindet sich heute in der Sammlung des Historischen Museums Wien. Die Geschichte des Nachlasses von Karl Kraus steht in engem Zusammenhang mit seinen Freunden und Weggefährten der letzten Lebensjahre. Über die von Karl Kraus als  Nachlaßverwalter eingesetzten Personen ist wenig bekannt. Das Folgende stellt eine Sammlung von verstreuten Fakten dar, die bei weitem unvollständig und ergänzungsbedürftig ist.

Literatur: Begleitbuch Wien 1999, 184-187; Katalog Marbach 1999, 19-24; Jens Malte Fischer, 11-13.

Karl Járay, Langackergasse 22, Wien, XIX.

Minerva. Jahrbuch der gelehrten Welt.
27. Jg. (1925), S. 1188.

 

Karl Járay (1878-1947) gehörte neben Oskar Samek, Heinrich Fischer und Philipp Berger zu den in Kraus' Testament genannten Nachlaßverwaltern. Járay hatte seit 1895 an TH Wien Architektur studiert und war auch vorübergehend als Architekt tätig, lehrte aber ab 1901 an der Technischen Universität Prag Gebäudekunde und Hochbau mit dem Spezialgebiet Eisenbetonbau, über das er auch publizierte. Seit 1925 lebte er in Wien im Ruhestand und gehörte zum Kreis der Kraus-Hörer. Járay engagierte sich vor allem für die Weiterführung von Kraus' Vorlesungen aus Schriften von Shakespeare und Goethe, als das Publikumsinteresse daran Anfang der 1930er Jahre nachließ, Kraus aber nicht bereit war, wie das Publikum es wünschte, nur aus eigenen Schriften zu lesen, sondern vielmehr im Dezember 1932 mit einer Shakespeare-Vorlesung den "letzten Versuch" unternahm, "Wiens Interesse für diesen Autor auf die Probe zu stellen" (F 885-87, 1932, 20). Am 8. Januar 1929 hatte Járay vor "organisierten Arbeitern" in Ortmann selbst eine Vorlesung "über Karl Kraus und aus seinen Werken" gehalten. Um diese Zeit (1928/29) kam es wahrscheinlich auch zur ersten persönlichen Begegnung zwischen Kraus und Járay (vgl. Wagenknecht, Kraus-Hefte 52 [1989], 3). Sidonie Nádhérny berichtet in einem Brief an Albert Bloch, die Bekanntschaft zwischen Járay und Kraus sei durch Helene Kann zustande gekommen (Lorenz, Hrsg., 254). Járay versuchte weiterhin eine Art Vermittlerrolle zwischen dem Wiener Publikum und Kraus einzunehmen, die sich in weiteren Aufrufen und Rundschreiben niederschlug (vgl. Wagenknecht, Kraus-Hefte 52 [1989], 2-14). 1931 veröffentlichte er auch einen Spendenaufruf, um die Summe von 500 000 Mark zu sammeln, mit der das "Theater der Dichtung in ein Ensembletheater" überführt werden sollte (Kraus-Hefte, 52, 1989, 1. - Im Katalog Marbach 1999, 353 wird allerdings Franz Glück als Verfasser genannt). Járay war maßgeblich an der Gestaltung der Feier zu Kraus' 60. Geburtstag am 28. April 1934 beteiligt, bei der er den "Dank der Hörer an Karl Kraus" vortrug, auch bei Kraus' Beerdigung hielt er eine kurze Gedenkrede. Auf Járays Veranlassung nahm der Fotograf J. Scherb nach dem Tod von Karl Kraus die bekannten Fotografien von Kraus' Wohnung auf (vgl. Katalog Marbach 1999, 21, 24-32, Begleitbuch Wien 1999, 74, 77, 79, 177). Karl Járay emigrierte 1938 nach Argentinien, ein von ihm angefertigtes Sachregister zur "Fackel" für die Jahrgänge 1899-1932 befindet sich in der Buttinger-Bibliothek der Universität Klagenfurt und wird derzeit am  Robert-Musil-Archiv für Literaturforschung der Universität Klagenfurt komplettiert und ediert. Ob dieses identisch ist mit dem Register, das Járay mit ins Exil nahm und das später in der Brandeis University Library in Waltham/Mass. (USA) aufbewahrt wurde (J.M. Fischer, 12) oder ob zwei Exemplare des Registers existieren, konnte bislang nicht eruiert werden.

Biographische Notiz: Karl Járay wird in der Literatur häufig mit dem Architekten und Kommerzialrat Karl Hans Járay verwechselt. Letzterer restaurierte Schloß Schönbrunn und die Wiener Hofburg und war Präsident des Österreichischen Fremdenverkehrsamtes. Dessen Sohn war der bekannte Schauspieler Hans Jaray (vgl. auch hierzu Wagenknecht, in Kraus-Hefte 52, 1989, 13, Anm. 1). Die Angabe im International Biographical Dictionary of Central Europe Emigrés 1933-1945 (Vol. II, 1. München 1983) ist demnach ebenso zu revidieren wie möglicherweise der Hinweis in in Katalog Marbach 1999, S. 20. 

 

 

 

 

 

 

 

 


"Ich nehme an, dass Ihnen der Grund, aus dem ich wirklich zwei Exemplare der Zeitschrift [sc. "Die Fackel", C.S.] besitze, nicht bekannt ist. Er besteht darin, dass ich seit nun bald fünf Jahren an einem Werk arbeite [...], dem Register der Zeitschrift[,] das die überraschende unermessliche Fülle des Inhalts erst erschliessen wird [...]."

(Karl Járay an Germaine Goblot, Brief aus der Kraus-Sammlung Maximilian Rubel, maschinenschriftl., zwischen 1934 und 1937, genaues Datum nicht eruierbar; zit. nach Katalog Karl Kraus. Antiquariat Die Silbergäule, Hannover. 1994, S. 17.)


 

 

 

 

 

Oskar Samek, Reindorfgasse 18, Wien, XV.


Der Rechtsanwalt Rudolf Samek (1899-1959) war eng mit Karl Kraus befreundet und seit 1922 in über zweihundert Prozessen sein Rechtsbeistand (vgl. Lunzer 1996, 71). Karl Kraus hat ihm das Theaterstück "Die Unüberwindlichen" gewidmet und ihm darin als dem ausgezeichneten und scharfsinnigen "Dr. Maske" ein anagrammatisches Denkmal gesetzt (Karl Kraus, Dramen, 273). Samek nahm während der Prozesse gegen Békessy, Alfred Kerr, Theodor Wolff und Johann Schober auch Einfluß auf die Texte in der "Fackel" (Begleitbuch Wien 1999, 44); er führte Kraus auch den Pianisten Georg Knepler zu, der ihn Anfang der 1930er Jahre bei seinen Offenbach-Vorlesungen auf dem Klavier begleitete, nachdem Otto Janowitz diese Aufgabe nicht mehr übernehmen konnte (vgl. Knepler, 219). Nach Kraus' Tod richtete Samek in einem Raum seines Anwesens in der Reindorfgasse 18 einen „Erinnerungsraum“ ein, in dem er das Arbeitszimmer von Karl Kraus originalgetreu wieder aufbaute. Nachdem Samek 1938 in die USA emigrieren mußte, wurde das Zimmer durch SA beschlagnahmt, der Verbleib der Möbel, Bilder und Bücher ist seitdem ungeklärt. Dietmar Grieser berichtet, daß die Bücher aus Kraus' Bibliothek im Flur aufgestapelt gewesen seien und jeder, der vorbeiging, sich bedient habe (Grieser, 191). Samek konnte lediglich die Akten der von ihm für Kraus geführten Prozesse und die Druckfahnen des nachgelassenen Werkes „Die dritte Walpurgisnacht“ ins New Yorker Exil retten. Die Prozessakten sind nach Sameks Tod 1959 in die Kraus-Sammlung der Wiener Stadt- und Landesbibliothek übergegangen und 1995/97 publiziert worden. Im Exil stand Samek in Kontakt mit dem Maler Albert Bloch, der Kraus' "Worte in Versen" ins Englische übersetzte. Zwischen diesem und Sidonie Nádhérny vermittelte Samek den Briefkontakt (vgl. Lorenz, Hrsg., 19), die Briefe zwischen Albert Bloch und Sidonie Nádhérny liegen seit kurzem als Publikation vor. Samek erwies sich im Exil als "treuer Wächter" (Sidonie Nádhérny, vgl. Lorenz, Hrsg., 207) des Kraus-Erbes und verwendete einige Energie darauf, die im Testament unklar geregelten Rechte an einer Herausgabe der Schriften von Karl Kraus an sich zu bringen und Nicht-Befugte oder als nicht geeignet anzusehende Herausgeber von einer Edition abzuhalten. Aus dem Briefwechsel Bloch-Nádhérny geht hervor, daß vor allem die diesbezüglichen Bestrebungen von Heinrich Fischer und Helene Kann von Oskar Samek und Sidonie Nádhérny mit Mißtrauen betrachtet wurden.

Literatur

Elke Lorenz, "Sei Ich ihr, sei mein Bote". Der Briefwechsel zwischen Sidonie Nádhérny und Albert Bloch. München 2002

Kraus-Hefte, hrsg. von Christian Wagenknecht und Sigurd Paul Scheichl, Nr. 69

"Karl Kraus contra ...". Die Prozeßakten der Kanzlei Oskar Samek 1922-1936 bearbeitet und kommentiert von Hermann Böhm. - 4 Bände. Wien, 1995-97 (Publikationen aus der Wiener Stadt- und Landesbibliothek ; 2,1-4). Im Anhang Informationen zur Biographie Sameks.

 

 

 

 

 

 

Gina Kaus, Philipphof am Albertinaplatz, Wien, I.


Philipphof vor der Zerstörung

Philipphof vor der Sprengung am 24. Oktober 1947.

Karl Kraus lernte die Schriftstellerin Gina Kaus in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg durch Helene Kann kennen. Gina Kaus berichtet, daß Kraus es sich zur Gewohnheit gemacht hatte, sie täglich, bevor er sich am späten Vormittag schlafen legte, anzurufen (vgl. Gina Kaus, 125). Der Philipphof wurde1883/34 erbaut; Architekt war Carl König, dessen Bauten das Wiener Stadtbild bis heute prägen (u.a. eine ganze Reihe von Zinshäusern und Palais, Haus der Industrie am Schwarzenbergplatz und mehrere Synagogen in den Vorstadt-Gemeinden). Der Philipphof wurde im Zweiten Weltkrieg durch Bomben schwer beschädigt (Foto links), die Ruine am 24. Oktober 1947 gesprengt. (Freundlicher Hinweis von Paul Zwirchmayr, Wels.)

 


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