Karl Kraus: Wiener Stätten

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III. Theater der Dichtung



Vorlesungsankündigung auf der 4. Umschlag-
seite der "Fackel" Nr. 404 vom Dezember
1914 (reprogr. Nachdruck 1999).

Das Bild von Karl Kraus ist heute nicht nur durch die "Fackel", die er über 26 Jahre hindurch alleine schrieb, sondern vor allem auch durch seine Vorlesungen geprägt. Mit ihnen erzielte er eine enorme öffentliche Wirkung. Das Bild des "weißen Hohepriesters" (Georg Trakl), der absteigt "zur Hölle, zu richten die Lebendigen und die Toten" (Oskar Kokoschka) dürfte sich mehr noch aus der unmittelbaren Wirkung der Vorlesungen speisen, denn aus den in der "Fackel" publizierten satirischen Abrechnungen. Anhand der überlieferten Ton- und Filmaufnahmen ist die spezifische Atmosphäre der Vorlesungen und die Wirkung auf das Publikum heute kaum nachvollziehbar. Eine Vorstellung davon vermitteln aber Berichte von Zeitgenossen. Elias Canetti schildert die von dem Vorleser ausgehende Faszination und verschweigt nicht sein Unbehagen angesichts des Publikums, das ihm "begeistert und fanatisch, befriedigt und drohend zugleich" erschien, als er am 17. April 1924 zum ersten Mal Karl Kraus als Vorleser erlebte. Es war die 300. Vorlesung, sie fand im Großen Saal des Wiener Konzerthauses statt (Canetti, Die Fackel im Ohr, 69). Karl Kraus selbst spricht in seinem Gedicht "Der Vorleser" davon, daß das Publikum ihm wehrlos ausgeliefert sei (weitere Eindrücke von Zeitgenossen in Schick, 60-65).

Die Idee, öffentlich aus eigenen Schriften vorzulesen, stand anfangs im Zusammenhang mit dem Plan, den Wirkungskreis der "Fackel" auf Deutschland auszudehnen und ihr dort einen neuen Leserkreis zu erschließen (vgl. Katalog Marbach, Kap. 9 und 10). Die erste Vorlesung fand im Januar 1910 auf Anregung von Herwarth Walden in Berlin statt. Erst seitdem las Karl Kraus regelmäßig vor allem in Wien, aber auch in Innsbruck, Prag und München aus eigenen und später in zunehmenden Maße, am Ende fast ausschließlich aus fremden Schriften. Die Vorlesungen wandelten sich im Laufe der Zeit zum "Theater der Dichtung", in dem Kraus aus den ihm wichtigen Autoren vorlas: Shakespeare, Goethe, Nestroy, Offenbach, Raimund. Unter den Veranstaltungsorten der Vorlesungen nutzte Kraus am häufigsten die Säle des Konzerthauses und des Wiener Musikvereinsgebäudes, aber auch die Säle des Gebäudes des Ingenieur- und Architektenvereins und des Hauses der gastgewerblichen Arbeiterschaft. Nach dem 1. Weltkrieg, der Zeit, in der Kraus sich der Sozialdemokratie zuwandte, veranstaltete er Vorlesungen "für die Arbeiterschaft" Wiens, für die er unter anderem auch das Volksheim Ottakring, den Festsaal der Neuen Hofburg, den Großen Saal des Arbeiterheims Favoriten oder das Bildungsheim Hietzing nutzte. In einigen Vorlesungen der Weltkriegszeit wurden auch Lichtbilder, z. B. von Moritz Benedict, dem Herausgeber der "Neuen Freien Presse", projiziert (Kraus-Hefte, 59 [Juli 1991], 12).  [Literaturhinweise am Ende der Seite]



 



Der Vorleser

Ich muß sie alle vereinen,
die ich einzeln nicht gelten lasse.
Aus tausend, die jeder was meinen,
mach' ich eine fühlende Masse.
Ob der oder jener mich lobe,
ist für die Wirkung egal.
Schimpft alle in der Garderobe,
ihr wart mir doch wehrlos im Saal!

(Karl Kraus, Worte in Versen, 144)


 

Konzerthaus, Lothringerstraße 20, Wien, III.



Konzerthaus Wien (um 1913)

Das Wiener Konzerthaus in der Lothringerstraße, unweit von seiner Wohnung in derselben Straße (Nr. 6) gelegen, hat Kraus ab 1914 am häufigsten für seine Vorlesungen genutzt. Errichtet wurde es 1911 von den Architekten Ludwig Baumann, Ferdinand Fellner und Hermann Gottlieb Helmer, es verfügt über drei Säle (Großer Saal, Mittlerer Saal [heute: Mozart-Saal] und Kleiner Saal [heute: Schubert-Saal]). Die Eröffnung fand am 19. Oktober 1913 statt. Das Konzerthaus wurde in der programmatischen Absicht errichtet, eine Haus für alle Wiener zu sein, und hob sich damit von dem geschlossenen Kreis des Musikvereins ab, dessen Gebäude nicht weit vom Konzerthaus entfernt liegt und dessen Säle ebenfalls von Kraus für Vorlesungen genutzt wurden. 

 

 



Gebäude des Ingenieur- und Architekten-Vereins, Eschenbachgasse 9-11, Wien, I.


Gebäude des Ingenieur- und
Architekten-Vereins (1902)
Weitere Informationen liegen hierzu z. Zt. nicht vor. Hinweise freundlich erbeten.
 

 

Musikvereinsgebäude, Karlsplatz, Bösendorferstraße, Wien, I.

Musikvereinsgebäude (um 1900)

Im Zuge der Ringstraßenbebauung nutzte der Musikverein die Möglichkeit, die beengten Räume unter den Tuchlauben aufzugeben und ein neues, repräsentatives Gebäude an der Ringstraße zu errichten. Architekt war Theophil Hansen, der außerdem die Kunstakademie, die Börse und das Parlamentsgebäude entwarf. Kraus nutzte vor allem den Kleinen Saal, der etwa 520 Personen faßte (Knepler, 212).

 

 

Haus der gastgewerblichen Arbeiterschaft ("Gewerbehaus"), Karlsplatz/Treitlstraße 3, Wien, IV.

Haus der gastgewerblichen Arbeiterschaft ("Gewerbehaus"; 1932)

Karl Kraus nutzte den Festsaal dieses Gebäudes 1932 mehrfach zu Offenbach-Vorlesungen. Seit Anfang 1932 wurde dieser Saal, möglicherweise auf Kraus' Vorschlag, "Offenbach-Saal" genannt (Knepler, 212). Das Gebäude wurde etwa 1930 erbaut und beherbergte von Beginn an soziale Institutionen, wie Krankenkasse und Genossenschaft des Gastgewerbes (freundlicher Hinweis von Waltraud Hala, Wien). Das Gebäude wird heute von der Technischen Universität Wien genutzt.

Eintrittsbillet zur Vorlesung am 30. Januar 1933, 
Festsaal im Haus der gastgewerblichen Arbeiterschaft


Dokumente und Literatur


Dokumente

  • Karl Kraus liest aus eigenen Schriften. Aufnahmen aus den Jahren 1930-1934. Mit einem Nachruf auf Karl Kraus, gesprochen von Alfred Polgar. 1 CD. Preiser Records Nr. 93017.
  • Karl Kraus liest Goethe, Shakespeare, Offenbach, Raimund. 1 CD. Preiser Records Nr. 90319.
  • Karl Kraus liest Eigenes und Angeeignetes. 3 CDs mit einem Begleitheft. (= Beiheft 2 zum Katalog Marbach 1999).
  • Karl Kraus liest aus eigenen Schriften. Tonfilmaufzeichnung von 1934. 1 Videokassette mit Begleitheft (= Beiheft 5 zum Katalog Marbach 1999).


Literatur

  • Die Kraus-Hefte, hrsg. von Sigurd Paul Scheichl und Christian Wagenknecht, widmen sich in den Nr. 35/36, 37, 59 und 61 den Vorlesungen von Karl Kraus. Im Doppelheft Nr. 35/36 (Oktober 1985) findet sich ein vollständiges Verzeichnis aller Vorlesungen.
  • Georg Knepler: Karl Kraus liest Offenbach. Erinnerungen, Kommentare, Dokumentationen. Berlin 1984 (212 ff. eine vollständige Auflistung aller Offenbachvorlesungen mit Nennung des Begleiters und der Veranstaltungsorte; beiliegend eine Schallplatte mit Originalaufnahmen von Karl Kraus und Georg Knepler, der Kraus zwischen 1929 und 1931 auf dem Klavier begleitete).
  • Schick, 60-65.
  • Katalog Marbach 1999, Kap. 14 und 17.
  • Begleitbuch Wien 1999, 140-157.

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